Bundespräsident a.D. Christian Wulff: „Die Demokratie klingelt nicht, wenn sie geht“

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Am 20. Januar 2024 fand in Hannover eine große Demonstration gegen Rassismus und Demokratiefeindlichkeit statt. Zu den Initiatoren gehörten auch hannoversche Turn- und Sportvereine. Vor 35.000 Demonstrant*innen hielt der Bundespräsident a.D. Christian Wulff eine bewegende und bedeutende Rede. Die TURNWELT durfte mit ihm über seine Motivation zur Rede, den Wert der Demokratie, die demokratischen Aufgaben der Turn- und Sportvereine sowie über die Wertschätzung für ehrenamtlich engagierte Menschen sprechen.

Herr Wulff, was sind Ihre persönlichen Erfahrungen im Turn- und Sportverein?
Im Turnen war ich wirklich sehr untalentiert. Meine sportlich beste Zeit habe ich im Basketball beim Osnabrücker SC erlebt. Dort habe ich an den Niedersächsischen Schülermeisterschaften teilgenommen, wurde allerdings selten eingesetzt. Später habe ich aktiv Politik gemacht und nebenbei Tennis und Squash gespielt. Ich jogge und bin förderndes Mitglied in Sportvereinen, aber derzeit in keinem Sportverein regelmäßig aktiv. Unregelmäßig spiele ich Volleyball und Basketball.

Sie haben in Ihrer politischen Laufbahn viele unterschiedliche Ämter innegehabt. Erläutern Sie uns bitte kurz die Rollen und Aufgaben des Fraktionsvorsitzenden im Landtag, des Ministerpräsidenten und des Bundespräsidenten?
Als Fraktionsvorsitzender, in meinem Fall damals als Oppositionsführer, arbeitet man daran, die eigene Partei so aufzustellen, dass sie die Regierung übernehmen kann, um Dinge positiv zu verändern. Als Ministerpräsident lässt man den Ministerinnen und Ministern in ihren Ressorts viel Freiheit, ist aber dafür verantwortlich, dass das Land gut in Berlin und in Brüssel vertreten ist und dass alles insgesamt in eine gute Richtung geht. Als Bundespräsident hat man eine repräsentative Rolle. Das Amt besteht zu 60 Prozent aus Außenpolitik, indem man alle deutschen Botschafter in die Welt entsendet und alle Botschafter aus der Welt in Deutschland akkreditiert. 30 Prozent sind Ehrungen, Würdigungen, Belobigungen, Auszeichnungen von Menschen. Der demokratische Staat nutzt hier das Mittel der Orden und Auszeichnungen, um Anerkennung zu zollen. Und etwa zehn Prozent der Tätigkeiten besteht darin, mit Reden etwas anzustoßen und eine Debatte zu lenken.

Unsere Demokratie wird am 23. Mai 75 Jahre alt. Damit hat ein Großteil der in Deutschland geborenen Menschen keine andere Staatsform erlebt. Was sind aus Ihrer Sicht die Vorzüge der Demokratie im Vergleich zu anderen Staatsformen?
Das Beste an der Demokratie ist für mich die Tatsache, dass jede und jeder ohne Furcht und Angst sagen darf, was er oder sie sagen will, dass alle um den besten Weg ringen können und dass bei Wahlen immer wieder neu entschieden wird, wie es weitergeht. Dass wirklich alle Macht vom Volke ausgeht, und das Volk nach vier Jahren die Dinge korrigieren kann. Dass jeder kandidieren und sich einbringen kann, ist für mich besser als wenn von oben durch Gewalt, durch Macht, durch Militär, durch Autokraten entschieden wird und es für den Einzelnen gefährlich wird, seine Meinung zu äußern. Diese besonderen Qualitäten sind uns nicht immer ausreichend bewusst, weil wir es nicht anders kennen. Aber das erst schätzen zu lernen, wenn man es nicht mehr hat, wäre verheerend! Die Demokratie klingelt nicht, wenn sie geht.

Das deutsche Grundgesetz spiegelt in besonderer Weise den Willen der Gründerväter und -mütter wider, dass sich die schrecklichen Erfahrungen der populistisch-faschistischen Diktatur nicht wiederholen dürfen. Was muss geschehen, damit jede*r Bürger*in dieses Vermächtnis, in dem so viel Haltung, so viele Werte und so viel Menschlichkeit steckt, kennt, liebt und bestenfalls verteidigt?
Man darf nicht erwarten, dass jeder mit dem Grundgesetz unterm Arm durch die Gegend läuft, aber man kann sich wünschen, dass wir in diesem Jahr um den 23. Mai herum vor allem den ersten Satz – Artikel 1, Absatz 1 – des Grundgesetzes noch einmal in Erinnerung rufen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser ist aufgrund der Erfahrungen in der Geschichte einer der schönsten Sätze in deutscher Sprache. Er kam nicht von allein. Und nichts ist von Dauer. Das müssen wir uns klar machen.

Was war Ihr persönlicher Beweggrund, am 20. Januar in Hannover mit zehntausenden Menschen gegen Demokratiefeindlichkeit auf die Straße zu gehen?
Ich hatte mir solche Kundgebungen eigentlich schon 2012 gewünscht. Nach dem Bekanntwerden der NSU-Morde hätte ich einen Aufschrei erwartet. Erst recht nach den Veröffentlichungen der Schriften von Björn Höcke, Maximilian Krahl und anderen AfD-Politikern. Als er dann aufgrund der Recherchen in Potsdam und Berlin kam, war für mich endgültig der Moment gekommen, mich über die Initiativen aus der Zivilgesellschaft zu freuen und mich gerne einzubringen. Dahinter steckt die Botschaft, dass wir Demokratie nicht konsumieren, sondern sie gestalten. Wir nehmen unsere eigene persönliche Verantwortung wahr, die wir für unser Land tragen. Die Kundgebung in Hannover war für den 20. Januar geplant, dem 82. Jahrestag der Wannseekonferenz in der Wannseevilla in Berlin. Zum 70. Jahrestag hatte ich dort als Bundespräsident sprechen müssen. Dort ist mir das Grauen in die Glieder gefahren, als ich vortragen musste, wozu Menschen fähig sind. Vor zwölf Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass es wieder Konferenzen gibt, auf denen man darüber nachdenkt, wie man Menschen aus Deutschland verdrängen kann, ihnen das Leben in Deutschland ungemütlich werden lassen kann, was dazu führen kann, dass sie sich vor ihren Mitbürgern verstecken müssen. Da kam so viel in mir hoch und mir wurde einmal mehr bewusst, dass wir niemals wieder zulassen dürfen, dass Menschen wegen ihrer Herkunft, des Aussehens oder eines Handicaps diffamiert, diskreditiert und verfolgt werden. Ich bin ganz stark von den Haltungen und Werten meines Vaters geprägt, der mir aus seinen eigenen Erfahrungen heraus schon im Alter von zehn Jahren die Gedanken vermittelte, Demokrat zu sein und die Demokratie zu schützen. Mit dieser Aufgabe stehe ich glücklicherweise nicht alleine da. An der Kundgebung sieht man, dass viele Menschen – die Mitte der Gesellschaft – jetzt aufstehen und Haltung zeigen.

Viele der Turn- und Sportvereine haben sich an der Demonstration und der Kundgebung beteiligt. Wir als Verband unterstützen und fördern dieses Engagement. Was glauben Sie, ist noch notwendig, um den Sport in der Gesellschaft in Bezug auf Demokratie und Vielfalt noch stärker wahrnehmbar zu machen?
Ich frage mich, ob wir nicht viel mehr darüber sprechen sollten, dass wir in vielen Sportarten nur deshalb in der Weltspitze sind, weil wir motivierte Menschen mit Zuwanderungsgeschichte haben. Wenn ich es richtig sehe, hat die Mehrzahl unserer Medaillengewinner bei Olympischen Spielen eine Migrationsgeschichte. Im Vergleich zum Anteil von ca. 20 Prozent in der Bevölkerung sind es bei den Medaillengewinnern über 50 Prozent. Das sind Menschen, die sich hier von klein auf beweisen müssen, die von ihren Eltern immer gesagt bekommen haben, dass sie besser sein müssen – in der Schule, im Job, im Sport. Das sind hochtalentierte und fleißige Menschen, die das ewige Training und den riesigen Aufwand auf sich nehmen, um besser zu werden. Für mich ist eines der großen Vorbilder unseres Landes Andreas Toba. Er bringt über zwei Jahrzehnte durch die Prägung seiner Familie und seines Vaters einen Einsatz, der unvergleichlich ist. Selbst mit schwersten Verletzungen kämpft er noch für sein Land und seine Mannschaft. Gerade im Sport hängen unsere Erfolge oft an den Menschen mit Migrationsgeschichte. Ich musste sofort hieran denken, als ich den Deutschen Handball-Nationalspieler Renars Uscins als besten Spieler des EM-Spiels Deutschland gegen Algerien auszeichnen durfte. Das diskutieren wir zu wenig. Das sollte der Sport noch deutlicher herausstellen. 

Es gibt die Einstellung, dass der Sport in seiner gesellschaftlichen Rolle unpolitisch sein sollte. Was meinen Sie?
Natürlich müssen sich Vereine zur politischen Vielfalt bekennen – es sollen nicht alle eine Meinung haben. Das wäre ganz schrecklich. Es darf auch linke Meinungen und rechte Meinungen geben. Aber der Sport muss sich gegen Extremismus, gegen Rassismus, gegen Diskriminierung und gegen den Kampf gegen Minderheiten positionieren. Er bewegt sich damit als Teil der Demokratiebewegung auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Die Vereine waren schon im 18./19. Jahrhundert Teil der Demokratiebewegung. Und man kann sehr genau beobachten, dass Zivilgesellschaft – also die Vereine – in Diktaturen immer sehr bekämpft werden, weil sie Orte der Demokratie sind, wo sich die Menschen einbringen, entfalten und wählen lassen können. Deshalb wollen Diktatoren keine Vereinsstrukturen, sondern sie wollen das zentralistisch mit staatlichen Behörden durchorganisieren und den Zugriff auf die Sportler*innen haben.

Sie waren auch Vorsitzender der Findungskommission des aktuellen DOSB-Präsidenten. In dieser Rolle haben Sie auch Kritik am organisierten Sport geübt. Was erwarten Sie vom organisierten Sport?
Das, was in der Gesellschaft schiefläuft, kommt ganz konkret im Sport an. Menschen ziehen sich eher zurück und bespielen ihre eigene Meinung, bewegen sich durch Soziale Netzwerke. Dialog, Akzeptanz anderer Meinungen und Toleranz geraten dadurch in Schwierigkeiten. Ich glaube, dass der Sport mit seinen Jugendlichen und jungen Erwachsenen das spürt. Das Wissen um das, was um einen herum passiert, geht langsam verloren. Dementsprechend stoßen radikalere Meinungen aufeinander, und immer mehr Menschen haben Probleme damit, miteinander im Gespräch zu bleiben. Man kann das im Profisport sehen – durch Gewalt und Störmanöver, weil die Leute meinen, sie werden nicht gehört, nicht akzeptiert und einbezogen. Als Mitglied im Kuratorium der DFL-Stiftung besuche ich Fanprojekte – da sieht man, welche sozialen Konflikte und Gewaltbereitschaft in die Fußballstadien verlagert werden. Da müssen wir verstärkt versuchen, Brücken zu bauen, den Menschen Gehör zu geben, die Bindung zu ihnen zu halten und dem Sport dabei auch Unterstützung geben. Beispielsweise durch Mediationstraining und Fortbildungen bzw. Ausbildung. Die Ehrenamtlichen nicht verzweifeln zu lassen, sondern ihre Arbeit wertzuschätzen und sie zu ermutigen, muss die Aufgabe des organisierten Sports und der Gesellschaft sein. Gerade im Sport hängen unsere Erfolge häufig an den Menschen mit Migrationsgeschichte. Das sollte der Sport noch deutlicher herausstellen.

Wie könnte diese Wertschätzung verbessert werden?
Die Ehrenamtlichen dürfen nicht durch Bürokratie überfordert werden. Es braucht in Niedersachsen einen Ort, wo Ehrenamtliche Unterstützung erfahren, wo man ihnen Dinge abnimmt. Sie brauchen eine Anlaufstelle, wenn sie Sorgen haben, z.B. mit Gewalt oder sexuellem Missbrauch, um sofort präventiv Maßnahmen und Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Wir sollten sie weiter ihre gute Arbeit machen lassen, ihnen aber noch mehr Rückhalt geben. Vor allem bei Finanzen, Organisation, Sportstätten, Versicherungsfragen, wie Haftpflicht. Vielleicht ist ein Grund, warum manche sich nicht mehr bereiterklären ein Ehrenamt auszuüben, die Angst, dabei jegliche Haftung übernehmen zu müssen.

Turn- und Sportvereine sind in ihrem Aufbau urdemokratisch und partizipativ angelegt. Gleichzeitig sehen wir, dass die Mitgliederversammlung der Vereine häufig nicht gut besucht sind. Was sollte sich ändern?
Ich würde mir wünschen, dass man die zwölf Tagesordnungspunkte bei Mitgliederversammlungen – von der Verabschiedung der Tagesordnung über die Beschlussfassung für das Protokoll, Bericht des Vorsitzenden, Aussprache und Entlastung – erkennbar zusammenfassen würde. In der Einladung sollte stattdessen ein Thema und eine Abfrage formuliert werden, was die Mitglieder über dieses Thema denken. Damit könnte der Austausch bzw. Dialog als Grundgedanke von Versammlungen gestärkt werden.

Was könnte Turn- und Sportvereinen helfen, mehr Menschen für ein Engagement zu begeistern?
Wenn ich Sportvereinsvorsitzender wäre, würde ich junge Leute stärker kooptieren. Junge Leute wollen sich oft nicht so lange binden, sich für zwei Jahre wählen lassen. Sie können sich oft nicht binden, weil sie zu Mobilität verpflichtet sind, also zum Studieren oder Arbeiten die Stadt verlassen. Deshalb auf sie zu verzichten, halte ich aber für einen großen Fehler. Wenn ich einige von ihnen kooptiere, kann ich die jungen Gedanken in die ehrenamtliche Arbeit einbeziehen und das zu hohe Durchschnittsalter im Ehrenamt absenken.

Was wünschen Sie sich von Turn- und Sportvereinen?
Vereine mit demokratisch gewählten Vorständen und Mitgliederstrukturen sind Teil der Demokratiebewegung und sollten sich für die Erhaltung der Demokratie engagieren. Sie dürfen nicht zulassen, dass Einzelne aus ihrem Verein ausgegrenzt werden. Aber natürlich kann sich jeder parteipolitisch frei bewegen, und man sollte auf jedes Mitglied stolz sein, das auch in einer demokratischen Partei aktiv ist.

 

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Das Interview mit dem kompletten Titelthema „Verein(t) für Demokratie“ in der TURNWELT | ZWEI 2024 findest Du bereits vorab hier.

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Foto: NTB

Autor: Das Gespräch mit Christian Wulff führten Heiner Bartling, Marcus Trienen und Heike Werner.

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